Der Brief

Mein Engel,

ich schreibe dir, weil es mir wichtig ist, dir gerade jetzt noch etwas zu sagen. Etwas, an dass ich die letzten Tage, die letzten Wochen und die letzten Jahre - eigentlich während unseres ganzen, gemeinsamen Lebens dachte.

Ich dachte an unser erstes Treffen, unsere erste Verabredung. Damals fragtest du mich, wie ich mich selbst sehe und wie das Bild aussehen würde, was ich von mir malen würde.
Eine Zeit musste ich überlegen, dann sagte ich dir:

Ich stelle mir vor, ich sei ein Haus. Von außen hell. Und ich würde mitten auf einer großen Wiese stehen, umgeben von einem stabilen Zaun. Der Garten wäre gepflegt und ordentlich, die Wiese rings herum wild und vom Wind zerstoben. Und ich sagte, dass im Hintergrund Berge und am ansonsten klaren Himmel, kleine Wolken zu sehen sind.

Ich erklärte dir, dass ich das Haus hell malen würde, weil ich mich so sehe. Hell, freundlich und offenherzig. Ich sagte, dass der Zaun, der mich umgibt meine Sicherheit ist, der Garten mein eigenes ich und die Wiese, die Unsicherheit, die ich immer mal wieder verspüre.
Die Berge, die zu sehen sind, erklärte ich dir mit den Höhen und Tiefen im Leben, mit den Herausforderungen, die mir begegnet sind und mir noch begegnen werden.

Die Wolken, sie sind meine Gedanken. Mal dunkel, tief und mit Regen gefüllt, mal weiß, verspielt und tanzend am Himmel.

Meine Erklärung endete damit, dass ich dir sagte, dass ich in den Bergen eine Hoffnung sehe. Die Hoffnung, irgendwann am Ende des Lebens den Gipfel des letzten Berges erreicht zu haben. Meine Hoffnung geht so weit, dass ich dann, während ich auf dem Berg stehe, die Zeit habe kurz inne zu halten, mich um zu schauen, mein Leben rückblickend zu betrachten - und zufrieden zu sein.

Das sagte ich dir damals.

Heute aber, sind wir alt geworden. Wir haben ein gemeinsames Leben gelebt. Ein einfaches, aber doch sehr zufriedenes, sehr glückliches Leben. Wir mussten Tiefen erleben, doch überwiegten die Hochphasen. Wenn ich heute an mein Bild von damals zurückdenke, dann finde ich, dass das Bild sehr gut gemalt war - obgleich es einen entscheidenden Fehler hatte. In meinem Bild war ich allein.

Heute weiß ich es besser. Heute weiß ich, dass du in dem Bild neben mir bist. Am Ende, als wir gemeinsam auf dem Gipfel stehen, aber auch auf dem gesamten Weg zuvor. Ich danke dir dafür, wenngleich ich nicht weiß wie ich das machen kann - hoffe aber, dass auch ich dir vieles mitgeben konnte, so dass du vielleicht dein eigenes Bild ebenso siehst.

Ich freue mich, dir das sagen zu können. Jetzt - wo wir noch nicht wissen, wie unsere weiteren Jahre, unser weiteres Leben aussieht. Ich wünsche mir, dass es so wird, wie in den Jahren zuvor.

Dein Ehemann, Liebhaber und Freund